Horror Vacui

In den späten zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts fertigte der Biochemiker, Autor und Philosoph Paul Nougé (1895-1967) neunzehn Photographien, die erst 1968 unter dem Titel 'Subversion d’images' in Paris veröffentlicht werden sollten. Der Serie ist gemein, dass sie auf der einen Seite von Zeichen, Assoziationen und Geschichten durchsetzt sind, während sie selbst zugleich die Verzeitlichungen und Nachträglichkeiten immer wieder aufs neue im Bild subvertieren: Es ist etwas zu sehen, was auf den zweiten Blick anders zu sein scheint.

In Romeo Grünfelders filmischem Remake naissance d’un objet von 2008 werden Elemente der Photograhie les spectateurs von Paul Nougé aufgegriffen. Eine feste Einstellung, eine Raumecke. Links angeschnitten ein Kamin, rechts das Ende eines Tisches, an dem eine Personengruppe zu Beginn des Films sitzt. Die Personen unterhalten sich, würfeln, kommentieren ihr Spiel beiläufig. Als eine der Spielerinnen im Gespräch ihren Kopf wendet, bemerkt sie etwas im Zentrum des Raumes. Die Anderen folgen ihrem irritierten Blick, das Zentrum des Bildraums wird zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Frage was sie sehen bleibt jedoch unbeantwortet. Die Sicht immer wieder von den Protagonist·innen verdeckt, um sie jedoch sogleich wieder einer Leerstelle auszuliefern. „Du willst also sehen. Na gut, dann sieh das!“ – so zitiert Jacques Lacan den etwas patzigen, anonymen Maler im undurchsichtigen Gefüge zwischen Bildproduzent·in, Blick und Betrachter·in. Was für den unbekannten Maler gilt, gilt ebenso für Nougé wie für den Film. Unterläuft das Bild die reine Abbildfunktion, glauben die Rezipierenden unter dem Einfluss ihrer eigenen Vorstellungen dennoch etwas zu 'sehen'. Sehen sie 'nichts', drängt sich ihnen der Verdacht der Sabotage eines Sehens auf, das sich selbst begnügt, indem es sich als Bewusstsein imaginiert. Nichts gezeigt zu bekommen kann aber auch und gerade bedeuten, eben jenem Widerspruch stattzugeben, etwas zu sehen, das nur vorgestellt und mangels Repräsentanz der Vorstellung gerade nicht das zeigt, was unterstellt wird.

Die Anthologie Horror Vacui stellt einen Versuch der Formulierung dieses Anspruchs an den Film dar - eben dem Anspruch, diesen Konflikt ins Werk zu setzen ohne ihn vorschnell beizulegen. Die zentrale Frage lautete daher: gibt es etwas, was bei der Betrachtung des Films einen Widerspruch auslöst worüber es sich lohnen könnte, zu sprechen? Sie richtete sich zum einen an Autor·innen, die das Enigmatische des Bilds, die Entledigung des Objekts beim Geschmacksurteil und den Gemeinsinn des Spiels hervorhoben. Zum anderen an Autor·innen, die bereits mit Vorlagen zum Paranoiden der Geisterphotographie, zu alltäglichen Absurditäten einer surrealen Existenz, zur Introspektion von Wahnvorstellungen, zum Paradox der Photographie des Unsichtbaren oder zur Kontingenz von Zeitreisen aufwarteten. Und letztlich an die Verlage Meiner und Fischer, um den Wiederabdruck von Aufsätzen über die Leere, Berichte über okkultistische Seancen oder über Wunder zu erlauben.

Mit Texten von Christian Wüthrich, Robert Pfaller, Martin Winter, Ursula Panhans-Bühler, Romeo Grünfelder, David Hume, Thomas Mann, Louis Kaplan, Peter Geimer, Aristoteles, Gabi Schaffner, Yvonne Wübben und Jeffrey Sconce. Das Foto Les Spectateurs ist jedem Buch als autorisierter Abzug auf Photopapier beigelegt.